2015
Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung
Noch viel zu tun auf dem Weg zur inklusiven Hochschule
Weltweit wird heute, am 3. Dezember 2015, der 1993 von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag der Menschen mit Behinderung begangen. Er soll das Bewusstsein für die Probleme von Personen mit körperlichen, seelischen und geistigen Beeinträchtigungen schärfen und Initiativen, die ihre Rechte und Wohlergehen fördern, unterstützen.
Obwohl seit dem Inkrafttreten der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungfür im Mai 2008 viele rechtliche Regelungen zur Verbesserung der Teilhabechancen von Menschen mit Beeinträchtigungen in Kraft gesetzt wurden und „zu einer Hochschule für alle“ auf den Weg gebracht wurden, „gestaltet sich in Deutschland die praktische Umsetzung –auch und gerade im tertiären Bildungssektor – immer noch holperig“ so Birgit Mock, Geschäftsführerin des Hildegardis-Vereins e.V. „Im Kontext der Inklusionsdebatten wird dieser wichtige Bereich vergleichsweisewenig wenig beachtet –obwohl der Bedarf nach individuellen Beratungsangeboten bei Studierenden mit Behinderung und an Unterstützung beim Übergang vom Studium in den Beruf erheblich ist. Hier setzt der Hildegardis-Verein mit seinen stärkenorientierten Programmen.“
Der Hildegardis-Verein, der älteste Verein zu Förderung von Frauenstudien in Deutschland, fördert seit 2008 im Rahmen seiner Projektarbeit gezielt Studentinnen mit Behinderung oder chronischer Krankheit. Finanziert von der Conterganstiftung führte er zwischen 2008 und 2013 das bundesweit erste Mentoring-Programm für Studentinnen mit Behinderung (www.mentoring-projekt.de) durch. Im Dezember 2013 startete der Hildegardis-Verein das modellhafte Tandemprojekt „Lebensweg inklusive – KompetenzTandems für Studentinnen mit und ohne Behinderung“ (www.lebensweg-inklusive.de). Das zugrundeliegende dreijährige Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01FP1261 gefördert. In diesen Programmen lernen die Beteiligten anhand von Vorbildern den Umgang mit Herausforderungen und Barrieren auf dem Lebensweg, identifizieren Ziele für die eigene Lebensplanung, qualifizieren sich im Bereich (Selbst-)führungskompetenz und erfahren Rückmeldungen zu den eigenen Kompetenzen und Stärken.
„Die Rückmeldungen der Teilnehmenden und die ersten Ergebnisse der projektbegleitenden wissenschaftlichen Evaluation durch die Universität Kassel zeigen uns, dass für die inklusivere Gestaltung des Hochschulwesens Programme wie Mentoring sehr geeignet sind. Sie wirken auf der Beziehungsebene und befähigen die Beteiligten, ihre eigenen Interessen dann auch an Weichen- und Entscheidungsstellen einzubringen.“ so Mock. „Wir können sie zur Nachahmung sehr empfehlen und werden zu Beginn des nächsten Jahres ein Manual veröffentlichen und die Ergebnisse allen Interessiten zur Verfügung stellen.“
Einen Möglichkeitsraum für Selbstwirksamkeit eröffnen
Hildegardis-Verein beschließt das zweite Projektjahr von „Lebensweg inklusive“
„Wer bin ich und wie will ich mein (Berufs-)Leben zukünftig gestalten?“ Für die Teilnehmenden der zweiten Projektrunde von „Lebensweg inklusive“ standen diese Fragen im Mittelpunkt ihrer Tandemzeit in den letzten 12 Monaten. Zum letzten Mal trafen sich die 20 Studentinnen, die für 1 Jahr ein Tandem bildeten, und ihre 20 Co-Mentor/innen am letzten Wochenende zum gemeinsamen Austausch in Bonn. Dabei waren sie sich darin einig: die Zeit miteinander hat Einblick in andere, bislang fremde, Lebenswirklichkeiten gewährt und neue Perspektiven aufgezeigt. Sie war von Vertrauen gesprägt, hat Neugier geweckt und Stereotypen aufgelöst.
Angeregt diskutierten und reflektierten die 40 Projektteilnehmenden auf der zweitägigen Abschlussveranstaltung im Rahmen verschiedener Workshops, Diskussionsrunden und Arbeitseinheiten das, was sie im zurück liegenden Projektjahr erlebt haben: die Besuche der studentischen Tandems bei ihren 2 Co-Mentor/innen, die Gespräche mit der Supervisorin, Dr. Annette Standop, die gemeinsamem Gruppentreffen in Bonn und natürlich die vielen Telefonate, Emails, Skype-Sitzungen und Facebook-Konversationen, die sich seit dem ersten Treffen der Teilnehmenden im November 2014 in Nürnberg ergeben haben. Für die meisten der Studentinnen und ihrer berufserfahrenen Begleiter und Begleiterinnen steht fest: auch in Zukunft wollen sie in Kontakt bleiben.
„Uns als Teilnehmenden wurde in dem Programm Eigenverantwortung zugetraut und zugemutet. Das ist in meinem Unialltag eine ungewohnte Erfahrung“, so eine Mentee des Programms.
Die vielfältigen biografischen Erfahrungen der Teilnehmenden sind nun die Grundlage für die Handlungsempfehlungen, die aus dem Projekt für eine gendergerechte, inklusive Hochschule abgeleitet werden, so Prof. Dr. Monika Treber, Vorsitzende des Projektbeirates und Co-Mentorin in der zweiten Runde. „Viele Vereinbarungen zur Barrierefreiheit wurden in der Hochschullandschaft schon mit Beschlüssen (u.a. zu einer „Hochschule für alle“) getroffen. In der Umsetzung liegt aber die besondere Herausforderung und hierzu kann das Projekt des Hildegardis-Vereins wichtige Hinweise liefern. Mit seinem spezifischen Ansatz, der partnerschaftlichen inklusiven Kooperation in Tandems, in denen je eine Studentin mit und eine Studentin ohne Behinderung ein Jahr lang zusammenarbeiteten, sowie der Begleitung durch zwei berufserfahrene Akademiker/innen war ein verbindlicher Rahmen vorgegeben. Den konnten die Teilnehmenden selbst füllen und sich als eigenverantwortlich handelnde Akteurinnen und Akteure erleben.“ Diese Erfahrung von Selbstwirksamkeit kann den Studierenden im weiteren Leben bei anstehenden Entscheidungen und Entwicklungs- und Veränderungsprozessen sich gute Dienste leisten.“
Im Rahmen der Tagung zollte die Schirmherrin des Projektes, Karin Nordmeyer, Vorsitzende des Nationalen Komitees Deutschland von UN Women, den Teilnehmenden große Anerkennung für ihr Engagement und wünschte ihnen Mut, Phantasie und Beharrlichkeit, um sich eigene Ziele zu setzen, und diese auch selbstbewusst anzugehen. Zusammen mit Petra Strack, der Leiterin der Personalabteilung von „Aktion Mensch“, ermutigte sie dazu, die eigenen Träume im Blick zu behalten, auch – oder gerade dann – wenn dabei Widerstände zu überwinden sind.
Der Hildegardis-Verein hat für die Lernerfahrungen der Beteiligten einen Raum eröffnet, in dem sich junge Menschen vergewissern konnten, wo ihre Stärken liegen und welche Ziele sie sich setzen wollen. Die Soziologinnen Prof. Dr. Mechthild Bereswill und Johanna Zühlke von der Universität Kassel stellten während des Seminars den Stand der wissenschaftlichen Evaluation des Projektes vor, die als projektbegleitende qualitative Langzeitstudie angelegt ist.
Schon weit gekommen, aber es geht noch mehr
Tandems der 2. Gruppe resümieren das erste Halbjahr von „Lebensweg inklusive“
Die weißen und schwarzen Steinchen auf dem überdimensionalen Damebrett zeigen, wie (unterschiedlich) weit die Studentinnen der 2. Gruppe von „Lebensweg inklusive“ seit dem Beginn des Programms im November 2014 gekommen sind. Während sich die einen noch eher am Anfang ihres gemeinsamen Lernprozesses fühlen, sehen sich die anderen schon auf der Mitte des Weges. Diese Positionen zu definieren ist Teil eines der Workshops, die der Hildegardis-Verein im Rahmen des Halbzeitseminares des innovativen Programms am 15./16. Mai im Gustav-Stresemann-Institut in Bonn durchgeführt hat: wie die Figuren auf einem Spielbrett stehen die Mentees zu Anfang der Arbeitseinheit an gegenüberliegenden Seiten des sonnigen Tagungsraums und bewegen sich auf die Mitte zu. Der Punkt, an dem sie Halt machen, wird entsprechend auf dem hölzernen Damebrett mit den Spielfiguren markiert: So können sich auch die blinden Projektteilnehmenden später einen Eindruck verschaffen, wo sich die anderen positioniert haben.
Auch ein anderer Workshop der Tagung, der von Dr. Annette Barkhaus (Wissenschaftsrat) geleitet wird, verbindet Lernerfolge im Karriereprogramm mit persönlichen Entwicklungsfragen: Um zu erkennen, wo noch verborgene Stärken liegen – und welche das sind – verwenden die 22 Frauen verschiedene Materialien, um sich im buchstäblichen Sinne ein Bild von sich selbst zu machen. Die Ergebnisse sind ebenso divers wie eindrücklich. Bilder von Hindernissen, Zielen und Energiequellen können sich die Teilnehmerinnen zukünftig in Erinnerung rufen, wenn sie eine herausfordernde Aufgabe vor sich haben.
Während der Halbzeitbilanz tauschen sich die 11 Tandems in intensiven Gesprächen miteinander und mit ihren alten und neuen Co-Mentor/innen aus. Sie verabreden, wie häufig und auf welche Weise sie im kommenden halben Jahr Kontakt halten werden, wann und wo das biographische Interview mit dem/der Co-Mentor/in stattfinden wird und welche Schwerpunkte sie in ihrem Austausch setzen möchten. Erste inhaltliche Fragen zu Studium, Praktika und Berufswunsch sind ebenfalls Teil der Diskussionen. Auch die Co-Mentor/innen untereinander haben Gelegenheit, sich kennen zu lernen und über ihre Erwartungen und Ziele für das Projekt zu sprechen.
Die Kombination aus einem partnerschaftlichen, studentischen Tandem und der Beratung durch berufserfahrene Akademiker/innen, die als Co-Mentor/innen fungieren, ist innovativ. „Die Arbeit im Tandem, so zeigen auch die Erfahrungen in der 2. Projektgruppe, erlaubt es den Studentinnen, gleichzeitig beraten zu werden und zu beraten, sich Rückstärkung einzuholen und Rückstärkung zu geben: das setzt Dynamik im Sinne von ‚Empowerment‘ frei," so Birgit Mock, Geschäftsführerin des Hildegardis-Vereins. „Das zusätzliche Coaching durch die Co-Mentor/innen, die mit ihrem Wissen, ihren Kompetenzen und ihrem Erfahrungsschatz zur Verfügung stehen, intensiviert diese Wirkung.“
Positiv denken und handeln, auch beruflich immer etwas Neues wagen, nach vorne sehen, ist auch der Rat, den Co-Mentor Siegfried Saerberg, 53, beim Kamingespräch (ohne Kamin) an die anderen Projektteilnehmenden weiter gibt: der promovierte Soziologe und Künstler ist seit dem 20. Lebensjahr blind, hat sich von seiner Behinderung jedoch nicht entmutigen lassen. Er hat ein Studium absolviert, geheiratet, eine Familie gegründet, ein Buch geschrieben, Ausstellungen kuratiert und vieles mehr. „Ich bin eben einer, der sich vieles erstmal zutraut, auch wenn dann nicht immer alles nur perfekt läuft.“ Das auch dies zu Erfolg führen kann, ist eine Botschaft, die nicht nur bei den Studentinnen gut ankommt.
Mut zur eigenen Identität lohnt sich
Inklusionstandems des Hildegardis-Vereins resümieren das erste Projektjahr von „Lebensweg inklusive“
Ein stiller Waldpfad, ein bunter Heissluftballon, der in den Himmel steigt, winzige Ameisen, die gemeinsam wertvolle Beute tragen. Das waren einige der Bilder, mit denen die Teilnehmer/innen der ersten Projektrunde von „Lebensweg inklusive“ am letzten Wochenende in Bonn ihre Gefühle und Hoffnungen nach einem Jahr des Zusammenwirkens beschrieben. Die 20 Studentinnen, die für 12 Monate ein Tandem bildeten, und ihre 20 Co-Mentor/innen waren sich dabei einig: die Zeit miteinander war bereichernd. Sie hat Einblick in andere, bislang fremde, Lebenswirklichkeiten gewährt und neue Perspektiven aufgezeigt. Sie hat Verständnis geschaffen, Neugier geweckt und Vorurteile bereinigt.
Die Stimmung auf der zweitägigen Abschlussveranstaltung war deshalb bestens. Angeregt diskutierten und reflektierten die 40 Projektteilnehmenden im Rahmen verschiedener Werkstätten, Diskussionsrunden und Arbeitseinheiten das, was sie im zurück liegenden Projektjahr erlebt haben: die Besuche der studentischen Teams bei ihren 2 Co-Mentor/innen, die Gespräche mit der Projektsupervisorin, Dr. Annette Standop, die gemeinsamem Gruppentreffen in Bonn und Berlin und natürlich die vielen Telefonate, Emails, Skype-Sitzungen und Facebook-Konversationen, die sich seit dem ersten Treffen im Januar 2014 in Bonn ergeben haben. Für die meisten der Studentinnen und ihrer berufserfahrenen Begleiter und Begleiterinnen steht fest: auch Zukunft werden sie in Kontakt bleiben, sich ebenso über Studium, Beruf und Lebensplanung austauschen wie über Alltägliches.
„Wir freuen uns sehr, denn die zurückliegenden Monate haben gezeigt: unser innovatives, biografieorientierte Mentoringkonzept ist ein wegweisender Erfolg," so auch Prof. Dr. Gisela Muschiol, Vorsitzende des Hildegardis-Vereins. Der neue Ansatz des Projektes legt den Schwerpunkt auf partnerschaftliche inklusive Kooperation in Tandems, in denen je eine Studentin mit und eine Studentin ohne Behinderung ein Jahr lang zusammenarbeiten, sowie die Begleitung durch zwei berufserfahrene Akademiker/innen: sie lernen deren Lebenswege in einem biografischen Interview kennen und erfahren, wie Barrieren überwunden und Ziele erfolgreich erreicht werden können. "Wir wollen mit dem Projekt möglichst vielfältige und bereichernde Lern- und Lebenserfahrungen durch den Umgang mit Differenz ermöglichen, und gleichzeitig aufzeigen, wodurch Gemeinsamkeiten entstehen, wenn man sich seiner Stärken bewusst wird und Erfolg individuell definiert", erklärt Muschiol. „Und das ist uns gelungen.
Im Rahmen der Tagung zollte die Schirmherrin des Projektes, Karin Nordmeyer, Präsidentin des Nationalen Komitees Deutschland von UN Women, den Teilnehmenden höchste Anerkennung für ihren Lebensweg und wünschte ihnen Mut, Phantasie und Beharrlichkeit, um sich eigene Ziele zu setzen, und diese auch selbstbewusst anzugehen.
In einer praxisorientieren Präsentation zum Thema „Unconscious Bias“, also unbewussten Stereotypen, erläuterte Frau Dr. Eva Voß, Diversity-Managerin bei der Wirtschaftsprüfungesellschaft Ernst & Young den Anwesenden anschaulich, wie sehr unsere Wahrnehmung anderer Menschen von diesen unbewussten Vorannahmen geprägt wird. Sie ermutigte dazu, sich dieser Befangenheit bewusst zu machen, und im Arbeits- wie im privaten Alltag gelegentlich zu erproben, wie es ist, Phänomene mehr zu beobachten und weniger zu bewerten.
Prof. Dr. Mechthild Bereswill und Johanna Zühlke (Universität Kassel) stellten den Stand der wissenschaftlichen Begleitforschung des Projektes vor und debattierten mit den Teilnehmenden darüber, wie sowohl Hochschule als auch Arbeitsleben inklusiver gestaltet werden können.
"Ich bin stolz auf das, was wir in den letzten Monaten gelernt und geleistet haben", resümiert eine begeisterte Mentee nach Ende der Veranstaltung. "Und ich bin mir sicher: Die Kontakte und Beziehungen, die wir geknüpft haben, werden uns auch in Zukunft stärken und stützen!"