Januar 2016

Projektfinale von Lebensweg inklusive

Das bundesweit erste inklusive Tandem-Programm gelt erfolgreich zu Ende

Mit einer bewegenden Tagung beging der Hildegardis-Verein e.V. am 15. Januar 2016 in Berlin den Abschluss des Projektes „Lebensweg inklusive: KompetenzTandems für Studentinnen mit und ohne Behinderung“.

Drei Jahre nach dem Auftakt des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Programms kamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der eintägigen Veranstaltung im Kleisthaus, dem Dienstsitz der Beauftragten der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen mit Gästen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammen, um Erfahrungen auszutauschen und im Kontext der entwickelten bildungspolitischen Handlungsempfehlungen über Möglichkeiten der Verstetigung des Projektansatzes zu diskutieren.

Nach der offiziellen Begrüßung der Gäste durch Eva M. Welskop-Deffaa, die im Vorstand des Hildegardis-Vereins maßgeblich an der Entwicklung und Durchführung des Projektes beteiligt war, wurde das Grußwort von Verena Bentele verlesen; die Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen hatte das Programm als Mitglied des Projektbeirats von Beginn an sehr unterstützt. Sie betonte, der Hildegardis-Verein habe mit dem Projekt einen „entscheidenden Beitrag dazu geleistet“, die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Forderung, dass Menschen mit Behinderung ein uneingeschränktes Recht auf Teilhabe besitzen, „mit Lebens zu erfüllen“.

Das „persönlichkeits- und stärkenorientierte Fördermodell ermutigt junge Frauen, selbstbewusst durch ihr Studium zu gehen. Indem Studentinnen mit und ohne Behinderung Erfahrungswissen austauschen, können sie gemeinsam Strategien zur Bewältigung von Herausforderungen entwickeln,“ so Bentele. „Die Zusammenarbeit bietet zudem die große Chance, Sensibilität und Verständnis für die individuelle Lebenssituation anderer Menschen zu entwickeln. Ich bin überzeugt, dass die Teilnehmerinnen durch das Projekt den Wert von Vielfalt für unsere Gesellschaft noch mehr zu schätzen lernen. Der Hildegardis-Verein befördert auf diese Weise eine Studienkultur, in der Inklusion nicht nur ein Schlagwort ist, sondern gelebt wird.“

In der auf die Begrüßung folgenden Panel-Diskussion bestätigten Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „Lebensweg inklusive“ diese These. Die Mentee Clara Berbée betonte, der Austausch mit ihrer behinderten Tandempartnerin habe Ihr nicht nur den Blick geöffnet für die Hindernisse, die diese in ihrem Studienalltag zu bewältigen habe, sondern sie habe auch erkannt, wie viele Erfahrungen von Barrieren und Chancen sie beide als weibliche Studierende gemeinsam haben. Die rollstuhlfahrende Mentee Isabell Rosenberg wies darauf hin, dass der Kontakt zu ihrer nichtbehinderten Tandempartnerin für sie dazu geführt habe, die Herausforderungen vor denen Personen stehen, die ohne Handicap leben, nicht nur wahr- sondern auch ernst zu nehmen. Beide Studentinnen waren sich einig, dass sie viel voneinander gelernt hätten. Die Gespräche mit ihren Co-Mentor/innen hätten ihnen zudem gleichermaßen dabei geholfen, eigene Stärken zu erkennen, für Interessen einzustehen sowie persönliche, akademische und berufliche Ziele zu entwickeln.

Die beiden Co-Mentor/innen Prof. Dr. Barbara Rucha, Dresden, und Prof. Dr. Bernd Irlenbusch, Köln, berichteten davon, dass die Zeit mit ihren Mentees auch für sie wertvoll gewesen ist. „Ich habe die Universität plötzlich mit anderen Augen gesehen und zum ersten Mal erkannt, was dort alles für Studierende mit Behinderung als Barriere wahrgenommen werden kann“, so Rucha. Diese Erkenntnis sei für sie als Hochschullehrende sehr wichtig und veranlasse sie dazu, entsprechende Änderungen anzufragen.

Irlenbusch, ebenso wie Rucha, betonte, es sei unabdingbar, stärkenorientierte Programme wie „Lebensweg inklusive“ bundesweit an den einzelnen Hochschulen zu etablieren, um den Austausch zwischen Studierenden mit und ohne Behinderung zu erleichtern und dadurch inklusives Denken an diesen wichtigen Lernorten zu befördern. Besonders für Studierende mit Behinderung sei dies auch im Hinblick auf den späteren Berufseinstieg von großer Bedeutung, denn es bekräftige sie in der Sicherheit, „mit ihren je eigenen Stärken einen wichtigen Beitrag für das spätere Berufsfeld leisten zu können“.

Auch die Vorstellung der Zwischenergebnisse der wissenschaftlichen Begleitstudie bestätigte  den erfolgreichen, lebenswegorientierten Ansatz des Projektes. Prof. Dr. Mechthild Bereswill und Johanna Zühlke von der Universität Kassel erklärten, die leitfadengestützten Expertinnen-Interviews, die in den vergangenen zwei Jahren durchgeführt wurden, hätten gezeigt, dass das Miteinander in den inklusiven Tandems und der biografische Austausch mit den Co-Mentor/innen bei allen Beteiligten zu Lernerfahrungen geführt hätten. „Der wechselseitige Vergleich, Momente der Identifikation und der Abgrenzung und Fragen der persönlichen Offenheit sind dabei von großer Bedeutung“, so Bereswill. Zum Beispiel würde der Kontakt zu den Tandempartnerin und den Co-Mentor/innen durch die Mentees dazu genutzt „Maßstäbe für den eigenen Werdegang zu finden“. Der Austausch über die biografischen Erfahrungen anderer trage hier zu einer „Relativierung und gleichzeitigen Konkretisierung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen“ bei.

Uwe Schummer MdB, behindertenpolitischer Sprecher der CDU-CSU-Fraktion, Sonja Abend, Vorstandsmitglied im Behindertenrat Nürnberg, Reiner Schwarzbach, Referent im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Prof. Dr. Monika Treber, Vorsitzende des Projektbeirates, und Eva M. Welskop-Deffaa zeigten unter Moderation von Silke Schönfleisch-Backofen, Regierungsdirektorin im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, in der abschließenden Diskussion Empfehlungen für eine gendergerechte inklusive Hochschule auf. „Leider ist der Umgang mit Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft oft noch immer mit Tabus belegt. Hier gibt es viele Unsicherheiten, Befangenheiten, Ängste. Das Projekt hat es geschafft, alltägliche und studienbezogene Begegnungen zu initiieren, in denen die Befangenheiten ausgelöst werden konnten und ein selbstverständlicher Umgang miteinander möglich wurde, da waren sich die Podiumsteilnehmenden einig. Alle Projektteilnehmerinnen werden diese Erfahrungen in ihr Umfeld mitnehmen, und so kann das Projekt weiterwirken. Daneben gibt es auf dem Weg zu einer gendergerechten inklusiven Hochschule aber strukturell, organisatorisch und kulturell noch weiteren Handlungsbedarf: in der Sensibilisierung von Lehrenden, in einer besseren zeitlichen und personellen Ausstattung der Beratungsstellen an den Hochschulen und einer Ausweitung von deren Zusammenarbeit, sowie der inklusiven Öffnung bestehender und bewährter Förderprogramme an den Hochschulen.

Zum Ende der Tagung verwies die Schirmherrin des Projektes Karin Nordmeyer, Vorsitzende des Deutschen Komitees von UN Women, in Ihrem feierlichen Schlusswort noch einmal darauf, dass die Stärkung von Frauen durch Initiativen wie Lebensweg inklusive auch heute noch nötig und wichtig ist, wenn es darum geht, Gleichstellung „nicht nur de jure sondern auch de facto Wirklichkeit werden zu lassen“. Nordmeyer betonte, auf dem Weg zu einer echten gleichberechtigen Teilhabe von Frauen sei auch trotz vieler Fortschritte noch ein weiter Weg zurück zu legen.

"Das Tandem-Programm hat gezeigt, wie wichtig es ist, den Blick auf die zielgerichtete, persönliche Förderung von Studentinnen mit und ohne Behinderung zu lenken und sie in ihren Stärken konsequent zu unterstützen“, so Welskop-Deffaa. „Die große Resonanz auf das Programm und auf diese Tagung ist für uns ein Beleg dafür, dass wir mit unserer Arbeit eine Lücke in der Bildungslandschaft geschlossen haben. Wir hoffen, dass unser Projekt Schule macht und viele Nachahmer findet.“ Der Hildegardis-Verein, so Welskop-Deffaa, bleibe seinerseits „an diesen Themen dran!“ − mit dieser Zusage schloss Eva M. Welskop-Deffaa: „Mentoring-Programme sind ein wertvolles Instrument, das umfassend einsetzbar ist, um in einer Gesellschaft des langen Lebens zur eigenen Lebensgestaltung zu befähigen.“

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Das dreijährige Projekt (2013-2016) wird unter dem Titel „Führungskompetenz, Leistungseinschätzung und Erfolgsstrategien vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Differenz. Ein Inklusionspartnerschaftsprojekt für Studentinnen und Akademikerinnen mit und ohne Behinderung“ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01FP1261 gefördert. Das Projekt zielt auf eine geschlechtergerechte Inklusion in Bildung, Wissenschaft und Forschung.